OTHER
MINDS

BERLIN 2022 /
OSLO & OTHER CITIES 2024

KURATORISCHES KONZEPT

Curatorial-Statement

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Die Screen City Biennial (SCB) Other Minds untersucht die Grenzzustände des Bewusstseins, die in der symbiotischen Beziehung zwischen dem menschlichen Geist und dem anderer lebender und nicht-lebender Materie – einschließlich Pflanzen, Bakterien, Pilzen und Technologien – entstehen. Das Projekt befragt und hinterfragt den Begriff des Menschlichen, indem es stattdessen die Idee des Mehr-als-Menschlichen aufgreift – ein Konzept, das die Persönlichkeit auf Wesen jenseits unserer Spezies ausweitet – und die Verbindungen zwischen aller lebenden und nicht-lebenden Materie sowohl auf planetarischer als auch auf kosmischer Ebene hervorhebt. Other Minds wird an einem außergewöhnlichen Ort stattfinden, der Archenhold-Sternwarte in Berlin. An diesem bedeutenden astronomischen Aussichtspunkt versammelt die Ausstellung die Stimmen verschiedener Künstler:innen, deren Arbeiten Verbindungen über historische Ebenen, Raum-Zeiten, Weltanschauungen und spekulative futuristische Erzählungen hinaus herstellen. Im Rahmen des Programms werden neu in Auftrag gegebene Video-, Audio- und zeitbasierte Kunstwerke präsentiert, einschließlich Performances, Aktivierungen, Künstler:innengespräche und Online-Events.

 

Als Ausgangspunkt ihres Narrativs fokussiert die Ausstellung Other Minds auf die verwobenen Fragen nach dem Bewusstsein, ein sich stets wandelndes Konzept, das seit Jahrhunderten im Zentrum philosophischer Befragungen steht. Seine Definition und Anwendung haben sich im Laufe der Geschichte mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Entstehung alternativer Weltanschauungen radikal verändert. In den letzten Jahren haben Tiere wie die Cephalopoda (Kopffüßer) – insbesondere der Oktopus – zu einem erweiterten Verständnis beigetragen, wie ein nicht-menschlicher Geist funktioniert, mit ihrem dezentralisierten Gehirn, das über ihren gesamten fluiden Körper verteilt ist und so das, was wir “Verstehen” und “Fühlen” nennen, in einer einzigen Geste vereint. Peter Godfrey Smith zufolge, dessen Werk diese Ausstellung und deren Titel inspiriert hat, stellen Cephalopoda – im Gegensatz zu Säugetieren – ein einzigartiges Experiment in der Evolution großer Gehirne und komplexen Verhaltens dar. Tatsächlich liegt das Leben unseres nächsten gemeinsamen Verwandten weit in der Vergangenheit und es war ein so simpler Organismus, dass unsere Möglichkeit, mit den Cephalopoda als fühlenden Wesen in Kontakt zu treten, letztlich nur darauf beruht, dass die Evolution den Geist zweimal gebaut hat¹. Aus dieser Perspektive könnte der Oktopus als die nächstgelegene Manifestation einer fremdartigen Intelligenz betrachtet werden, der wir jemals begegnen könnten – unser fremder Verwandter.

Mit ihren Tentakeln (abgeleitet vom lateinischen tentāre, “versuchen”) haben Cephalopoda Donna Haraways Konzept des tentakulären Denkens inspiriert – eine Strategie, die uns dazu ermutigt, über binäre Aufteilungen und duale Oppositionen hinaus zu denken und unsere Wahrnehmung so gegenüber den vielfältigen Realitäten zu öffnen, die wir noch nicht vollständig erkennen und begreifen können². Wenn wir versuchen, unser Gehirn im tentakulären Denken zu trainieren, bietet uns das vielleicht einen Rahmen, um die Dualitäten zu überwinden, die so tief in unseren Denkmustern verwurzelt sind; die Opposition von biologischem Leben und Tod, des Menschlichen/nicht-Menschlichen, die Geschlechteraufteilung, neben vielem Weiteren. So kann tentakuläres Denken uns möglicherweise dabei helfen, zu einem erweiterten Verständnis von mehr-als-menschlichen Agenten zu gelangen, das vielleicht sogar zu einer lebenswerteren Zukunft für uns alle führt.

Wie können wir lernen, unsere Welten tentakulär zu verstehen, und was müssen wir verlernen, um dies zu erreichen? Wie können diese Strategien eine Verschiebung in unseren Denkmustern und Betrachtungsweisen befördern, eine Verschiebung, die ein kollektives planetares Bewusstsein anstelle eines individuellen erzeugt? Und waren wir jemals ein individuelle Einheit oder sind wir im Wesentlichen vielfältig?

¹  Peter Godfrey-Smith, Other Minds: The Octopus and the Evolution of Intelligent Life, William Collins, London (2017)
² Donna Haraway, Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, Duke university press, Durham & London (2016)

Es ist erwiesen, dass der menschliche Körper aus einer wesentlich höheren Anzahl mikrobieller Zellen als menschlicher Zellen besteht. Bakterien, Pilze und Viren bewohnen unseren Körper mit und ermöglichen es ihm, zu leben und zu funktionieren. Wir sind eine Ansammlung lebender Organismen , die weit mehr als einen individuellen Körper darstellt; wir sind ein portables Ökosystem, das durchgängig Masse und Energie mit seinen Umgebungen austauscht – ein Holobiont. Kollaboration und Symbiose sind demnach essenziell, um Leben, Evolution und Bewusstsein zu verstehen. Neue Erkenntnisse deuten außerdem darauf hin, dass unser Mikrobiom nicht nur unseren Metabolismus, unsere Körperfunktionen und die Fortentwicklung unterstützt, sondern sich direkt auf unsere Gedanken und Gefühle auswirken könnte und so letztlich die Art und Weise beeinflusst, wie wir handeln. Wenn unsere Gedankenprozesse und Emotionen von anderen Lebensformen, die unseren Körper mitbewohnen, beeinflusst werden, agiert unser Verstand dann jemals unabhängig? Oder ist der menschliche Verstand nur eine kleine Komponente in einer viel größeren planetaren Ansammlung von mehr als menschlichen Geistern, die kollektiv eine kosmische Intelligenz formen – etwas, das wir vielleicht noch nicht erfassen und beschreiben können?

Verbindungen zwischen dem Mikroskopischen und dem Teleskopischen werden in Metahaven’s Film Capture (2022) gezogen, einer cineastischen Suche danach, was Wahrnehmen und Sensing heutzutage bedeuten können, mit einer Sound-Komposition von Espen Sommer Eide. Das Werk kombiniert Archiv-Material des CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) mit Filmsequenzen, die mithilfe einer Vielzahl von Kameras und Sensoren entstanden sind, und spielt dabei mit Beobachtung, Verflechtungen, Science-Fiction, Wissenschaft und Poesie. In Jenna Sutelas audiovisueller Arbeit Milky Ways (2022) werden die Körper terrestrischer Organismen als vernetzte aquatische Umgebungen erforscht. Dabei liegt eine besondere Aufmerksamkeit auf den in Brustmilch enthaltenen Zuckern, die mit den Darmbakterien der Babys kommunizieren und die wohl bei der frühen Entwicklung des Nervensystems von Babys eine Rolle spielen. Aus dieser Perspektive ist die Weitergabe der Brustmilch nur oberflächlich betrachtet ein Akt des Fütterns; vor allem ist es ein Akt des Worldbuilding, des Schaffens von Welten, über Generationen hinweg und zwischen verschiedenen Lebewesen. Die Art und Weise, wie das Gedächtnis die Weitergabe einer Datenkette durch die Materie über die Zeit hinweg ermöglicht, wird in der Virtual-Reality-Erfahrung und Installation Eternal Return: the Memor (2019-2022, mit ScanLAB Project) von Lundahl & Seitl weiter entwickelt.

Indem mehrere Verbindungen zwischen lebendiger Materie und Geologie gezogen werden, erzeugt das Werk die Erfahrung einer Zeitreise, ausgehend von der tiefsten Vergangenheit der Erde als einzellige Cyanobakterien bis hin zu ihrer post-anthropozentrischen Zukunft. Ihre Arbeit Symphony of a Missing Room – Sternwarte (2022) choreographiert eine sensorische Erfahrung im Kontext der Archenhold-Sternwarte; wir werden zu Empfängern des Lichts, das von den Sternen ausgeht, und versuchen, mit einem Signal Kontakt aufzunehmen, das uns aus einer Entfernung von mehreren Lichtjahren erreicht.

Ein großer Teil des Narrativs von Other Minds konzentriert sich auf pflanzliche Intelligenz, mit Pilzen und Pflanzen als Lehrende. Tatsächlich hat die symbiotische Beziehung zwischen Menschen und psychoaktiven Pflanzen, Pilzen, oder selbst Tieren über die Geschichte hinweg neue Modi des Sehens und Spürens von der Realität erzeugt. Dies kann uns näher zu Vorstellungen von Einheit und planetarischem Ganzen bringen, die über die Idee eines fragmentierten Funktionierens hinausgehen. Die Auflösung des „Ich“, die erfahren werden kann, wenn Psilocybin-Verbindungen in unseren Metabolismus eindringen, kann auch ein temporäres Verständnis der Funktionsweisen von Holobionten und mehr-als-menschlichen Agenten erlauben. Es wird sogar angenommen, dass psilocybinhaltige Pilze eine bedeutende Rolle in der schnellen Entwicklung des menschlichen Gehirns hatten, das seine Größe in nur zwei Millionen Jahren verdreifachte. Die Pilze dürften diesen plötzlichen Schub nicht provoziert haben, doch sie könnten ein subtiler und beachtlicher Faktor bei der Entwicklung des Gehirns gewesen sein, indem sie als „Hacker“ des menschlichen Geistes agierten und zur Ausweitung seiner neurologisch modernen Hardware des Denkens beitrugen. Die Verbindungen zwischen dem menschlichen Gehirn und psilocybinhaltigen Pflanzen werden erforscht und erträumt von Grace Ndiritu in Becoming Plant: the Experience (2022), Viktor Pedersen und Ingrid K. Bjørnaali in To See Without Man (2022) und Patricia Domínguez in Matrix Vegetal (2022). Diese Arbeiten betonen das bewusstseinserweiternde Potenzial, das freigesetzt werden könnte, wenn wir eine symbiotische Verbindung mit dem pflanzlichen Geist herstellen und so posthumane Vorstellungen der planetaren Verwobenheit zu einem kosmischen Bewusstsein ausweiten. 

Kann die Betrachtung eines Blattes als Energie verarbeitende Oberfläche dazu beitragen, unsere gegenwärtigen extraktiven Praktiken neu zu denken, die zu einer anthropogenen Erschöpfung von Ressourcen führen? Kann Photosynthese einen spekulativen Rahmen bieten, sich eine Zukunft vorzustellen, in der der menschliche Körper gelernt hat, Sternenlicht direkt zu verarbeiten, und teilweise pflanzlich geworden ist?

 

 

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Other Minds fokussiert sich in einem weiteren Erzählstrang auf die Entwicklung künstlicher Intelligenz, den Geist der Software und darauf, wie die Möglichkeit eines künstlichen Bewusstseins bereits unsere Gegenwart und die Art beeinflusst, wie wir uns die Zukunft inmitten der Ruinen des Kapitalismus ausmalen. In der Augmented-Reality-Arbeit Coffee Ground Imaginaries (2022) wird Anna Ehrenstein mit 4DHD mithilfe der traditionellen Wahrsagemethode der Tasseographie (eine Methode, Muster im Kaffeesatz zu interpretieren) auf die Art und Weise reagieren, in der die Algorithmen Muster zur Vorhersage und Verwirklichung der globalen Zukunft schaffen.

Einen kritischen Zugang zur zunehmenden Feminisierung von Technologie bietet Eli Cortiñas mit ihrer Vortragsperformance I’d Blush If I Could (2022–2023), indem sie verschiedene Geräte – humanoide Roboter, sprachgesteuerte Systeme, Chat-Bots, gynomorphe und zoomorphe soziale Instrumente – miteinander ins Gespräch treten lässt, um Themen rund um Ökologie, Nachhaltigkeit, Care-Arbeit und Geschlecht zu diskutieren.

Als Abschluss der Erzählung von Other Minds schafft Jacob Kirkegaard mit Opus Mors (2019) einen komplexen Raum für die hörbare Erfahrung der molekularen Veränderung von Materie, wenn der Bewusstseinszustand des Lebens beendet ist. Das Werk wird an einem astronomischen Ort präsentiert und kombiniert das Molekulare mit dem Kosmischen, um die Vorstellung der menschlichen Dekomposition als natürliche Transformation (oder Re-Komposition) in andere Materie neu zu denken. Können wir dem Klang von Elektronen lauschen? Jenseits ihrer augenscheinlichen Stabilität auf einer atomaren oder subatomaren Ebene ist Materie unentwegt elektrisch. Sie vibriert in ihren scheinbar stabilen Grenzen in einem Tanz, der uns alle mit den unsichtbaren Bakterien, Viren und Pilzen, die in unseren Körpern gedeihen, oder mit den „trägen“ Objekten, die uns umgeben, verstrickt. Alle Atome zerfallen unmerklich und warten unbewusst darauf, in einer kontinuierlichen Sympoiesis und Koevolution in neue Materie umgewandelt zu werden.

Other Minds, das das Medium des bewegten Bildes in erweiterter Form betrachtet und unkonventionelle öffentliche Räume für die Kunst in Berlin (2022) und Oslo (2023) besetzt, erstreckt sich von seinem Hauptveranstaltungsort in der Archenhold-Sternwarte auf andere Orte in der Stadt. Begleitet von einem umfangreichen öffentlichen Programm, das Aktivierungen, Live-Performances, Gespräche und Online-Events beinhaltet, wirft Other Minds einen genauen Blick auf mehr-als-menschliche Agenten, Ko-Evolution und die fundamentale Vernetzung lebender und nicht-lebender Materie.

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